KURATORISCH

2018 the milk-bar collection, Städtische Galerie Timişoara, Rumänien (mit Barbara Schrödl und Andreea Palade Flondor) // Municipal Gallery Timişoara, Romania (with Barbara Schrödl and Andreea Palade Flondor), Fotografie / photo © Ulrike Ettinger


2016 etNOetNOetNO, Salon Vega, Theresien Bastei Timișoara, Rumänien (Gruppenausstellung, kuratiert mit Dana Catona) // Salon Vega, Timişoara, Romania (with Dana Catona)


2007-2008 Social Cooking Romania, Ausstellungs- und Buchprojekt an der neuen Gesellschaft für bildende Kunst – nGbK Berlin (mit der AG u.a. Raluca Blidar, Simon Marschke, Dan Mihaltianu) // neue Gesellschaft für bildende Kunst – nGbK Berlin (with Raluca Blidar, Simon Marschke, Dan Mihaltianu a.o.), Fotografien außer 1 und 2 / photos except 1 and 2 © Ulrike Ettinger

Pressemitteilung Social Cooking Romania, Dezember 2007
15. Dezember 2007 – 27. Januar 2008, täglich 12 – 18.30h
Eröffnung: 14. Dezember, 19h
Künstlerische und theoretische Arbeiten thematisieren die Entwicklungen in der rumänischen Gesellschaft, indem sie auf das Thema „Essen” fokussieren. Die Verbindung von Kunst und Essen bzw. Nahrung bietet die Möglichkeit zu einer Analyse von Alltag und Lebenswelt sowie von sozialen und politischen Zusammenhängen. Der zeitliche Fokus liegt hierbei auf den Jahren seit der politischen Wende 1989, dem Fall des „eisernen Vorhangs” und den damit verbundenen Entwicklungen – bis hin zum EU-Beitritt des Landes Anfang dieses Jahres.

Künstler_innen: Auditorium, Matei Bejenaru, Raluca C. E. Blidar, Geta Bratescu, Candida TV, Ulrike Ettinger, Constantin Flondor, M.A.N. Florian, Ion Grigorescu, Iosif Király, Katharina Koch, Aurelia Mihai, Olivia Mihaltianu, Dan Mihaltianu, Nita Mocanu, Ciprian Muresan, Vlad Nanca, Stefan Rusu, subREAL, Joanne Richardson, Patricia Teodorescu

Die Ausstellung versammelt künstlerische Positionen, die Bezüge zu den Themen Lebensmittel, Ernährung und Nahrungsbeschaffung im sozialen Kontext herstellen – von den frühen 90ern bis heute und von der geschlossenen Gesellschaft des Ceausescu-Regimes bis hin zur offenen Gesellschaft der postkommunistischen Ära in Rumänien.

Es werden auch einige seit den 60ern aktive Künstler präsentiert, die auch heute einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der rumänischen Kunst leisten: Geta Bratescu, Constantin Flondor und Ion Grigorescu. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Evolution der Kunstszene in Rumänien ist die Position der Generation ’80.

Künstler wie Mircea Florian, Calin Dan, Iosif Kiraly und Dan Mihaltianu haben immer einen mit den neuen Medien eng verbundenen künstlerischen Diskurs praktiziert: Ton, Installation, Performance, Video und Fotografie.
In den frühen 90ern entwickelte subREAL einen neuen Diskurs, der auf sozialen Themen basiert und die Position von Kunst und Künstlern innerhalb der Gesellschaft in Frage stellt. „Alimentara“ ist ein Projekt, dass das Verhältnis zwischen Essen bzw. Nahrung und Politik als Mittel zur Manipulation der Massen in den Mittelpunkt der Diskussion rückt, indem es Nahrungsmittel und Produkte aus Lebensmittelgeschäften früherer Zeiten als Überbleibsel des ehemaligen Regimes ausstellt. Matei Bejenarus künstlerische Untersuchungen beschäftigen sich mit dem neuen sozialen Kontext, den neuen Produktionsverhältnissen und der Arbeiternehmermigration in Europa, sowohl vor als auch nach dem EU-Beitritt Rumäniens.

Vlad Nanca – ein Vertreter der jüngeren rumänischen Kunstszene – wiederholt einige kulinarische Klischees der 80er mit einem ironischen Ansatz in seiner Arbeit „Original Adidas“. In seinem Video „Choose“ kommentiert Ciprian Muresan das Dilemma des Konsumverhaltens, in dem er sich Pepsi und Coke zuwendet – zwei ähnlichen Produkten mit unterschiedlichen sozialen und politischen Aussenwirkungen. Die häusliche Einrichtung und der Lebensstil ist Thema der Fotografien von Raluca C.E. Blidar. Die Serie „bucate alese”, aufgenommen in Küchen im ländlichen Raum, zeigt den zentralen Raum gesellschaftlicher oder familiärer Begegnungen, der allerdings bei näherer Betrachtung schon Auflösungsprozesse der „alten” Strukturen aufzeigt. Der Film „Gruppenbild in Weilau” von Ulrike Ettinger ist ein Portrait einer Roma-Gemeinschaft im Norden Siebenbürgens. In den Berichten/Interviews geht es u.a. um die Übernahme kultureller Praktiken (u.a. von Festtagsspeisen), die allgemein den Siebenbürger Sachsen zugeschrieben werden, aber auch um die sozio-ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre. Ergänzend werden Arbeiten der Videoaktivistinnen Joanne Richardson, Katharina Koch und Nita Mocanu gezeigt, die eine intendierte gesellschaftliche Bestandsaufnahme vornehmen. Die Themenbreite umfasst u.a. Diskriminierung und open source sowie die Situation von Müttern oder von Künstlerinnen in Rumänien. Eine Gemeinsamkeit der Filme ist das Rezept des do-it- yourself – als Alternative zu Resignation und politischer Teilnahmslosigkeit.

Das Buch „Social Cooking Romania“ vereint eine Reihe von Texten, Studien und Essays zur Geschichte, Kunstgeschichte, Soziologie, soziopolitische Themen, künstlerische Untersuchungen und Kunstwerke und illustriert die neueren Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft und Kultur Rumäniens. Horea Avram gibt Einblick in künstlerische Positionen zum Thema „Nahrung und Essen“ von den 70ern bis zum heutigen Tag, während Irina Cios zeitgenössische Positionen untersucht. In ihrem Beitrag, „Social Queuing“ reflektiert Simina Badica über das Phänomen des Schlangestehens für knappe Lebensmittel in den 80er Jahren. Hilke Gerdes beschreibt die derzeitige Situation der landwirtschaftlichen Produktion nach den durch den EU-Beitritt bewirkten Veränderungen. Katalog zur Ausstellung: deutsch / rumänisch, ISBN 978-3-938515-11-2

Live-Events zur Eröffnung am 14. Dezember:
Great Distillations (Nineteen Fifty-Four) von Dan Mihaltianu
Holy Grill von Vlad Nanca

Social Cooking Romania ist eine Ausstellung der gleichnamigen Projektgruppe der NGBK: Sophia Bickhardt, Raluca Blidar, Ulrike Ettinger, Patrick Hanbaba, Miron Schmückle, Simon Marschke und Dan Mihaltianu

Pressespiegel
Tagesspiegel, 27. Dezember 2007
KULINARISCHE KUNST „SOCIAL COOKING ROMANIA”
Ziegen zerlegen

Jens Müller
Eat Art. Kunst und Essen. Bisher kennt man das vor allem von Daniel Spoerri. Der ist in Rumänien geboren, und so kommt es vielleicht nicht von ungefähr, dass sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe rumänischer Künstler mit dem Thema befasst hat. Das lässt sich derzeit in der Ausstellung „Social Cooking Romania” feststellen. Es geht um die sozialen Implikationen des Essens. Die Mehrzahl der gezeigten Arbeiten sind Videofilme, die ein von archaischen kulinarischen Traditionen geprägtes Land zeigen. Zwischen Wohnblocks aus Beton räuchern die Leute Fleisch. Auf der Terrasse einer armseligen Hütte zerlegen zwei Männer eine Ziege. In Stefan Rusus Arbeit „Brezhnev likes Mamaliga & Mamaliga likes Brezhnev” wird ein Hahn geköpft. Der Rumpf zappelt noch eine Weile, um anschließend auf dem offenen Feuer gekocht und mit Polenta zubereitet zu werden: das Leibgericht des ehemaligen UdSSR-Staatschefs Leonid Breschnew.
Fleisch war im kommunistischen Rumänien Mangelware. Die Menschen mussten Schlange stehen, oft ohne Ergebnis. Sogar Fleischabfälle waren Luxus und wurden von der Bevölkerung mit Namen versehen, die an Luxusgüter aus dem Westen erinnerten. Schweinsfüße hießen „adidasi” – nach dem deutschen Sportartikelhersteller. Vlad Nanca präsentiert Schweinsfüße mit drei aufgebrachten Streifen. Hinter den Klischees blitzt Ironie auf. In Ciprian Muresans Clip „Choose …” mischt ein Junge die Inhalte einer Pepsi- und einer Coca-Cola-Dose. Seit Januar 2007 ist Rumänien in der EU. Angekommen in der Konsumgesellschaft.

Berliner Zeitung, 29. Dezember 2007
Es ist angerichtet!
In der Ausstellung „Social Cooking Romania“ untersuchen rumänische Künstler die sozialen und politischen Bedeutungsebenen des Essens

Jacek Slaski
Zwölf Salatköpfe, sechzig Gläser konserviertes Gemüse, zwanzig Kilo geräucherte Schweinsfüße, ein Stück Speck, ein ungenießbares Huhn, außerdem Kochplatten, Töpfe und einen Kühlschrank benötigte die Bukarester Künstlergruppe subREAL für ihre Installation „Alimentara“, deren Fotodokumentation nun in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) zu sehen ist. Alimentara hießen vor der Wende alle Lebensmittelläden in Rumänien. subREAL inszenierte 1991 diese kargen, von der Warenknappheit gezeichneten Symbolräume einer damals gerade vergangenen Epoche und stellte sie in einen abstrakten, der einstigen Bedeutung enthobenen Zusammenhang. Das Angebot der Alimentara war bestimmt von den Launen der Planwirtschaft und die einzigen Nahrungsmittel, die es immer gab, waren Gemüsekonserven im Glas. Alles andere musste sich hart erarbeiten werden. Man klapperte die Läden in der ganzen Stadt ab, hatte Beziehungen zum Verkäufer, ergatterte heiß begehrte Bückware durch kleine Bestechungen, fuhr zum Bauern aufs Land oder stand stundenlang in der Schlange. Diese Jagd nach dem Essen entsprach einem absurden, umgekehrten Konsumverhalten. Da es fast nichts zum Konsumieren gab, wurde die gesamte emotionelle Energie darauf verschwendet, etwas zu konsumieren – was immer es auch war.
Nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes machten die Alimentara Platz für die neuen Shoppingmalls. Plötzlich drehten sich die Verhältnisse um. Während bis zum Ende der 1980er-Jahre Macht hatte, wer Fleisch hatte, gab es nun Lebensmittel im Überfluss, doch auf einmal war das Geld knapp. Die neue kapitalistische Wirtschaftsordnung hat in europäischen Schwellenländern wie Rumänien in kürzester Zeit radikale soziale Veränderungen mit sich gebracht.
Die Ausstellung „Social Cooking Romania“ reflektiert diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse durch den Fokus des Essens. Knapp zwei Dutzend rumänischer Künstler und Künstlergruppen der mittleren und jüngeren Generation analysieren durch die Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Kunst und Essen die politischen und sozialen Gefüge ihrer Lebenswelt seit dem politischen Wechsel von 1989. Es ist ein engagiertes Vorhaben, bei dem viele der Künstler in einer schnörkellosen, dokumentarischen Sprache die Problemthemen direkt ansprechen, statt sich mit Metaphern oder einer ausgeklügelten Ästhetisierung aufzuhalten. Videoarbeiten dominieren die Ausstellung, in denen Menschen sprechen und interagieren. Mal wird Brotteig geknetet, eine Hochzeitssuppe vorbereitet oder, wie in Stefan Rusus Videoarbeit „Converting Economies“, Bilder der rumänischen Zuckerproduktion mit Archivmaterial zu Kubas florierender Rohrzuckerindustrie der 1960er-Jahre gegengeschnitten. Essen wird hier oftmals zu einem universellen Gleichnis des Lebens – vom intimen, familiären Ritual bis zum Instrument einer internationalen Politik und Propaganda.
Verschmitzt konsumkritisch, fast schon subversiv mutet hingegen Ciprian Muresans 41-sekündiges Video „Choose …“ an. Ein kleiner Junge sitzt am Tisch, vor ihm steht ein leeres Glas, eine jeweils eine Dose Pepsi und Coca Cola. Der Junge muss wählen, eine völlig neue Situation in einem Land, in dem es vor wenigen Jahren nichts zu wählen gab. Und Matej Bejenaru übersetzte in seiner Performance „Alexander der Gute“, deren Videodokumentation in der NGBK gezeigt wird, die einstigen Überlebensstrategien der Bewohner der Plattenbausiedlung „Alexander der Gute“ in die heutige Zeit. Bejenaru stellte Räucheröfen zur Verfügung, die von den Anwohnern kostenlos verwendet werden durften. Was hier als Kunstaktion verpackt wird, war in der Vergangenheit bittere Realität, denn wenn es mal Fleisch gab, kam es in großen Stücken vom Land, und musste geräuchert werden, damit es länger haltbar bleibt. Dabei entdeckte er, dass auch heute noch manche Menschen in den Plattenbauten auf solche Methoden angewiesen sind.
So emphatisch die rumänische Videokunst soziale Missstände oder einfach nur die harte Realität aufzeigt, so schnell braucht sie sich auch auf, was zum großen Schwachpunkt der Ausstellung wird. Der relativ junge Weg des Dokumentarismus in der zeitgenössischen Kunst arbeitet oft mit dem Mittel der Vereinfachung und wird den präsentierten Arbeiten sichtbar zum Verhängnis. Denn die Künstler tragen mit solchen dokumentarisch geprägten Filmen einen unangenehmen wie selbstgerechten Wahrheitsanspruch vor sich her, was wohl dem Werk einen Status der Unantastbarkeit verleihen soll. Von dieser moralischen Warte herab wehrt der Dokumentarismus schließlich jede Kritik per Definition ab. Man zeigt schließlich die Wahrheit, und daran lässt sich bekanntlich nichts aussetzen, denn die Wahrheit ist eben die Wahrheit.
Dabei gibt es seit vielen Jahrzehnten die wunderbare Tradition des Dokumentarfilms. Eine ausgereifte visuelle Handwerkskunst, die es den Dokumentarfilmern ermöglicht, Themen jeglicher Art verständlich und intelligent zu vermitteln. Diese Dokumentationen laufen im Fernsehen oder auf Filmfestivals, und das ist gut so. In einer Galerie haben Rudimente von Dokumentarfilmen, erst recht unter der Tarnkappe der Kunst, nichts verloren.
Wie eindrucksvolle Arbeiten zum Thema Essen auch jenseits des dokumentarischen Anspruchs entstehen können, zeigt M.A.N. Florian mit seiner Klanginstallation „Das letzte Abendmahl“. Florian zog an einer Wand ein zur Endlosschleife montiertes Tonband in der Form eines Tisches auf, davor legte er ein Kissen auf den Boden, um sich bequem niederzuknien. Das Tonband beschreibt grafisch den Tisch und spielt zugleich Essens- und Tischgeräusche ab. Florian kreiert mit seiner Klanginstallation eine abstrakte, spirituelle Idee des Essens und verweist auf die tausendjährige Verankerung des Essens in der europäischen Kunst.

Neues Deutschland, 19. Januar 2008
»Adidasi«
Tom Mustroph
Essen und Lebensmittel werden in der Geschichte der rumänischen Kunst fast zwangsläufig zum Sozialreport. Das zeigt auch die inhaltlich gehaltvolle Themenschau »Social Cooking Romania« in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK). Die meisten der Arbeiten stammen aus den 90er Jahren und stehen für die beginnende Konsumgesellschaft.
Direkt in Alimentara-Läden führt die Künstlergruppe subREAL. Gläser mit konserviertem Gemüse – eines von wenigen Produkten ohne Lieferengpass – sind zu einer imposanten Pyramide getürmt. Schweinsfüße, ebenfalls Markenzeichen dieser Geschäfte, hängen als Struktur an der Wand. Iosif Kiraly zeigt in der beeindruckenden Fotoserie Duett, wie ein kompletter Schweinerumpf in eine schmale Küche bugsiert wird. Das tote Tier scheint den Raum zu sprengen.
Voller Ironie ist Matei Bejenarus Video »Alexander der Gute«. 1994 hatte er im Stadtteil Alexander der Gute von Iasi auf einer Brachfläche ein paar Räucheröfen aufgestellt. Bewohner umliegender Neubaublocks nahmen das Angebot an und räucherten Fleisch von elterlichen Höfen. Agrarkultur und urbane Kultur vermischten sich. Künstlerkollege Vlad Nanca versieht einen Grill mit einem Kreuz und erklärt den illuminierten Profanaltar zum »Holy Grill«. Nanca verbindet alte Mangelkultur mit neuem Konsum. Auf die Schweinsfüße, vom Volksmund »Adidasi« genannt, malt er die drei Streifen des Sportartikelkonzerns. Einen Hinweis auf das damals ausgeprägte Improvisationstalent gibt Stefan Rusu mit der Dokumentation einer illegalen Wodkadestille an Bord sowjetischer Atom-U-Boote.
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der neben der Dokumentation der Arbeiten interessante Bemerkungen über die Funktion von Schlangen als einzige tolerierte Form unangekündigter öffentlicher Versammlungen enthält sowie ein Interview mit einer Rumänin über ihre Erfahrungen als Erdbeerpflückerin in Spanien.

Neue Zürcher Zeitung, 6. März 2008
Die Küche ist kein Laufsteg
Social Cooking Romania – eine Kunstlektion über Essen und Politik

Petra Kipphoff
«Social Cooking Romania» heisst ein Küchen-Buch, das ohne grafische Mätzchen auskommt. Es untersucht das Essen und Trinken als Spiegel der rumänischen Geschichte.
Essen Sie noch, oder kochen Sie schon? Weder noch, könnte der Fernsehzuschauer sagen, dem das kleine und das grosse Fernsehspiel abhanden gekommen sind, der dafür aber, sicher geleitet von Johannes B. Kerner und Co., täglich so oft von Kochherd zu Kochherd eilen darf wie früher mit Dr. Wussow von Krankenbett zu Krankenbett. – Natürlich gibt es am Herd mehr Spass als auf der Intensivstation. Aber wer guckt sich eigentlich alle diese hackenden, schnitzelnden, köchelnden, pochierenden, filettierenden, dünstenden und bratenden Damen und Herren an? Und wer sitzt da im Studio, um dabei zu sein und vielleicht einen Happen abzubekommen?
Alles bio
Die Töpfe funkelnd, das Gemüse knackig, das Fleisch mager, die Köche souverän, der Kochtalkmaster naschend. Mit anderen Worten: alles bio. Dieses Bild mit Variationen kommt einem vors Erinnerungsauge, wenn man ein unter Verzicht auf grafische Mätzchen und knallige Farben gut gestaltetes, fettfrei gehaltvolles Buch aufschlägt, das «Social Cooking Romania» heisst. Auf den bald ausdrucksstarken, bald eher lakonischen Bildern (zu dem Buch gehörte auch einmal eine kleine Ausstellung in Berlin mit Videos, Fotos und wenigen Installationen) geht es unverblümt und eher ungesund zu, stille Poesie inklusive. Zwei Schweinsfüsse falten die Zehlein. Auf einem Plastic-Küchentisch steht ein Becher Kaffee neben einem korpulenten Zuckertopf. In einer grossen Schüssel wird Teig mit zwei Händen geknetet, die vielleicht auch gerade schmutzige Kartoffeln geschält haben. Um einem karg gedeckten Tisch herum sitzt eine Familie mit Freunden, ein Mann hält stehend eine Rede, auf einem Teller sieht man ein hartes Ei, Tomate, Zwiebel, eine Frikadelle, eine Kartoffel. Auf einem Bild, das zu einem Video gehört, wird ein Hahn geköpft und gerupft in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen, die Brühe, so erfährt man, wird zum Kochen von Polenta genutzt, ein Leibgericht von Leonid Breschnew, die Köchin kam aus Rumänien. Auf einer Fotosequenz schenkt ein kleiner Knabe, der am Küchentisch mit geblümter Plasticdecke sitzt, sich mit der rechten Hand Pepsi Cola und mit der linken Coca-Cola ins Glas.
Spätestens bei diesen Fotos aus dem Jahr 2005 merkt man, dass es bei diesem Buch über Kochen und Essen in Rumänien nicht um gastronomische Anekdoten aus Osteuropa geht, sondern um Essen und Trinken als Teil, als Spiegel der rumänischen Geschichte. «Ende der sechziger Jahre», so schreibt der Foto- und Installationskünstler Dan Mihaltianu im Katalog, «wurde ein neues, kohlensäurehaltiges Getränk auf dem rumänischen Markt eingeführt: Pepsi – als Zeichen der Entspannung im Kalten Krieg?» Erst Pepsi, dann Coke – die Mauer ist gefallen, alles ist möglich, Pepsi und Coke, Freiheit ist Konsumfreiheit.
Die hier auf dem Kunst-Umweg präsentierte Geschichte des Kochens und Essens beginnt im Rumänien der 1980er Jahre mit einer Soziologie des Schlangestehens. Simina Badica-Bucurenci beschreibt diese alltägliche Szene aus Konkurrenzkampf und Solidarität, in der Kinder und alte Leute eine wichtige Rolle als Platzhalter spielen. «Papa», das Essen, war in dieser Zeit ein gesellschaftliches Kontrollinstrument, aber auch eine Inspirationsquelle für politische Witze und damit eine Art von Therapeutikum, schreibt Mihaltianu, von dem nicht nur eine knappe, interessante Geschichte der kulinarischen Identität Rumäniens und ihrer Verquickung mit den politischen Gegebenheiten stammt, sondern auch der vielleicht eindrucksvollste künstlerische Beitrag. Unter dem Titel «Neunzehnhundertvierundfünfzig» hat Mihaltianu ein Gefrierelement, einen Destillierkessel, eine Konservendose mit Walfleisch, Sonnenblumenkerne und ein Glas mit eingelegten Melonen zusammengestellt. Alle Gegenstände sind Teil der rumänischen Geschichte, die der Künstler und seine Familie miterlebt haben. Sonnenblumen- und Kürbiskerne waren während der Dürrejahre 1945/1947 eine Art von Ersatznahrung, die ausgespienen Hülsen lagen überall in Parks und Strassen, das Ungeziefer, das sich darüber hermachte, verbreitete ansteckende Krankheiten, die Regierung besprühte daraufhin das Land mit DDT, Menschen inklusive. Der Winter 1953/54 wiederum war so hart, dass Wölfe und Bären in die Städte kamen, geschwächte Menschen anfielen und das Fleisch der Leichen auffrassen. Walfischfleisch wiederum wurde den armen, gastrosophisch unterentwickelten Rumänen aus dem caritativ gesinnten Dänemark geschickt, der Vater des Künstlers versuchte mit eingelegten Melonen, den Trangeschmack zu konterkarieren. Und der Grossvater brannte alljährlich im Herbst im Garten in einem selbstgebauten Kessel Obstschnaps, eine Tradition jenseits aller historischen und ideologischen Wandlungen, der Mihaltianu auch mit anderen Arbeiten, die unter dem Oberbegriff Liquid Matter stehen und sowohl das flüssige Element wie auch den Vorgang des Destillierens zum Thema haben, seit Jahren nachgeht.
Küchenlatein
Der Leser und Betrachter dieses Buches, der noch das Tamtam erinnert, das im vergangenen Sommer bei der Documenta 12 um den zum Künstler ernannten spanischen Spitzenkoch Ferran Adrià gemacht wurde, der zwar nicht anwesend war, aber den vom Documenta-Direktor ausgesuchte Besucher auf Kasseler Kosten in seinem Restaurant in Spanien besuchen durften, um nach einem unerhörten Mahl mit einem angenehmen Hungergefühl wieder aufzustehen, hätte sich Social Cooking Romania in Kassel gewünscht. Zum Beispiel als Gegenpart zum abwesenden Künstlerkoch, über den im Katalog zu lesen war: «Mit der Dekonstruktion Formen des Essens durch Veränderung der Aggregatzustände bei gleichzeitiger Beibehaltung der Aromen will Adria über die Irritation der Essgewohnheiten eine Intensivierung des Geschmackserlebnisses initiieren.» Wer sich im letzten Sommer über den degenerierten Zynismus eines solchen Küchenlateins der Überflussgesellschaft geärgert hat, der kann jetzt in «Social Cooking Romania» eine andere Geschichte über die Zusammenhänge von Kochen, Essen, Leben, Überleben und Kunst sehen und nachlesen.